Projekt-Dokumentation "Ein gedeckter Tisch für alle!"

Ein gedeckter Tisch für alle! – warum?
Lösungen zu finden für soziale Benachteiligung und Exklusion übersteigt die Kompetenz des Einzelnen. Deshalb bedarf es Erfahrungen und Methoden des respektvollen Dialogs. Das Projekt „Ein gedeckter Tisch für alle!" hat sich in verschiedener Form mit Begegnung und dem offenen und respektvollen Gespräch beschäftigt, in und mit der Öffentlichkeit.
Die Idee zu dem Projekt entstand Anfang 2016 im Mütterforum Baden-Württemberg gemeinsam mit dem Mütter- und Nachbarschaftszentrum Reutlingen und dem Familienzentrum elkiko Tübingen. Ausgangspunkt der Überlegungen waren die Erfahrungen aus dem „Offenen Treff" der Mütter- und Familienzentren und das Ergebnis der ersten wissenschaftlichen Studie zu den Offenen Treffs, durchgeführt 2013 vom Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Tübingen.

Die Offenen Treffs in den Mütter- und Familienzentren sind deshalb besonders, weil sie alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen ansprechen – Mütter- und Familienzentren sind Anlaufstellen im Alltag von Familien, die in wirtschaftlich gesicherten Verhältnissen leben, wie auch für Familien, die benachteiligt sind oder von Transferleistungen leben müssen.

Was waren die Ziele?
Ziel des Projekts „Ein gedeckter Tisch für alle!" war es in erster Linie, gemeinsam verstehen und ausdrücken zu lernen, was vorher nur individuelle Betroffenheit war. Wir wollten neue Formen des Gesprächs finden und ausprobieren, um aus den Erfahrungen neue Lösungsrichtungen zu entwickeln.
Bewusst wurde dem Thema Armut Raum gegeben: in unseren Zentren, im Handeln im Sozialraum und auf persönlicher Ebene. In der Beziehung miteinander, in dem konkreten Gespräch, im Mitdenken und Mitfühlen sollten Perspektiven für neue Handlungsmöglichkeiten entstehen. Ziel ist das Zuhören von „unten nach oben" und von „oben nach unten", es geht dabei nicht um den abstrakten Austausch zwischen Welten, sondern um konkretes Erleben.
Darüber hinaus sollen durch das Projekt die beteiligten Nachbarschafts-, Mütter- und Familienzentren als Multiplikatoren und Kooperationspartner von den jeweiligen Kommunen anerkannt und gefördert werden.

Wie sind wir dies angegangen?
Die Offenheit, die im Konzept der Mütter- und Familienzentren verankert und in den Zentren Praxis ist, wird bewusst in den öffentlichen Raum getragen. Sie wird als Methode genutzt, um „Beteiligte" durch das bewusste Schaffen von Gelegenheiten ins Gespräch zu bringen. So können Erfahrungen geteilt und Entwicklungsanstöße sichtbar werden.
In Mütter- und Familienzentren sind wir davon überzeugt, dass man mit jeder Zielgruppe partizipativ arbeiten kann, deshalb ist uns die Beteiligung von Betroffenen selbstverständlich. Wir wollten erfahren und sammeln, was sich entwickelt, wenn wir Menschen zu einem gemeinsamen Gespräch zusammenbringen, das sonst nie stattgefunden hätte. Im Projekt haben wir Menschen aus unterschiedlichen Lebenslagen an einen Tisch geholt oder sind mit einem gedeckten Tisch in ihren Sozialraum gekommen, um über den Kontakt gemeinsam verstehen zu lernen und zum Handeln anzuregen.

Warum gab es drei Projektpartner?
Einzelmaßnahmen sind keine wirkungsvolle Prävention – deshalb wurde das Projekt „Ein gedeckter Tisch für alle!" in Vernetzung und mit verschiedenen Mütter- und Familienzentren geplant und umgesetzt. Die Projektpartner waren das Mütterforum Baden-Württemberg sowie das Mütter- und Nachbarschaftszentrum Reutlingen und das Familienzentrum elkiko Tübingen. Nach den beiden Pilotprojekten sind die Projektpartner mit dem Konzept zudem auf fünf weitere Familienzentren zugegangen.

Was war uns noch wichtig?
Im Projekt wie auch in den Mütter- und Familienzentren generell geht es darum, echte Begegnungen und Beteiligung zu ermöglichen und zu fördern, bei aller Heterogenität „auf Augenhöhe" miteinander zu sprechen. Es ging nicht nur darum, Armut in der Öffentlichkeit und hier insbesondere bei kommunalen Vertretern und potentiellen Unterstützern zu thematisieren. Die Einbeziehung sowohl von Armut betroffener Frauen wie auch der in den Zentren engagierten Freiwilligen ins Projekt ist ein Kernelement unseres Vorgehens. Jede/r hat eine Stimme und diese soll gehört werden!
Das soll auch in dieser Dokumentation zum Ausdruck kommen. Deshalb werden in der gesamten Dokumentation immer wieder blaue und durch Linien abgesetzte Zitate oder „Stimmen", wie wir sie im Projekt genannt haben, eingeflochten.

Zitate der Projektteilnehmerinnen des 1. Tischs in Reutlingen

Projektdaten
Projektträger:
Mütterforum Baden-Württemberg e. V.

Projektpartner:
Mütter- und Nachbarschaftszentrum Reutlingen e. V.
elkiko Familienzentrum Tübingen e. V.

Projektleitung:
Andrea Laux, ehrenamtlicher Vorstand Mütterforum, und Dipl.-Psych. Christiane Zenner-Siegmann, Expertin für Familienbildung, Frühe Hilfen und Offener Treff im Mütterforum sowie ehrenamtlicher Vorstand elkiko Tübingen

Veranstaltungen:

  • 3 Tische im Mütter- und Nachbarschaftszentrum Reutlingen mit je 8 bis 18 Teilnehmern
  • 14 Tische im öffentlichen Raum in Tübingen mit jeweils 5 bis 20 Passanten, 5 Stadtteilgänge
  • 5 Tische in weiteren Mitgliedszentren des Mütterforums (Sigmaringen, Biberach, Freiburg, Stuttgart-Wangen und Heubach) mit je 6 bis 15 Teilnehmern

Erreichte Zielgruppen:

  • Wir haben ca. 140 von Armut Betroffene persönlich erreicht, viele davon waren bereit, ihre Geschichte zu erzählen und sich aktiv ins Projekt einzubringen.
  • Wir waren mit ca. 500 Personen im Gespräch (bei den Tischen und im Netzwerk).
  • Es gab 6 Presseartikel in Reutlingen, 1 in Tübingen und 1 in Heubach, insbesondere in Reutlingen, aber auch in Tübingen und Heubach, war die Resonanz in der Bevölkerung und von kommunalen Vertretern groß
  • Wir haben 24 kommunale Vertreter im persönlichen Kontakt in den Zentren erreicht, darüber hinaus wurde das Projekt in Reutlingen und Tübingen in mehreren Gremien und Arbeitskreisen vorgestellt.
  • In Reutlingen, Tübingen und im Mütterforums-Netzwerk selbst waren mindestens 120 Vernetzungs-partner am Projekt beteiligt, darunter Partner, mit denen in anderen Bereichen zwar bereits Kooperationen bestanden, aber noch keine Vernetzung in Bezug auf das Thema Armut vorhanden war.

Strategien gegen Armut
Das Projekt „Ein gedeckter Tisch für alle!" hat gezeigt, dass mit den Methoden des Dialogs neue Perspektiven sichtbar werden und Entwicklungen angestoßen werden können.
Die erste bedeutungsvolle Erkenntnis, wenn belastende Lebenserfahrungen in einem offenen und geschützten Gespräch mitgeteilt und miteinander geteilt wurden, war das deutlich sich ausbreitende Gefühl der Empörung. Dieses Gefühl unterscheidet sich von Mitleid und hat andere Konsequenzen. In den Dialogen am „gedeckten Tisch für alle" wurde ersichtlich, wie Betroffene und zunächst Unbeteiligte in der Empörung in einer rationalen Empathie Zusammenhänge erkennen und besprechen können und wie Handlungsmöglichkeiten greifbar werden. In den folgenden drei Fällen kam dies sehr deutlich zum Tragen.

Was hat uns empört?
Es wurde z.B. offensichtlich, wie sehr es Jugendliche stigmatisiert, wenn das Taschengeld während des FSJ angerechnet wird auf die Transferleistungen der Familie, und sie nicht die gleichen Freizeitmöglichkeiten haben wie die anderen FSJ-ler. Hier ist ein Verständnis der Lebenslage von Jugendlichen und Einlenken auf Seiten von Politik und Verwaltung gefordert.

Eine alleinerziehende Mutter, die die Fürsorge um ihr Kind schlecht verbinden kann mit den Arbeitszeiten in der Gastronomie, ist hoch motiviert, nicht nur zur Aushilfe in der Pflege zu arbeiten, sondern eine Ausbildung zur Altenpflegerin zu machen. Die notwendige finanzielle Unterstützung wird verwehrt, weil sie vor 20 Jahren bereits eine Ausbildungsunterstützung erhalten hat. Auch das empört und verlangt nach anderen Lösungen in einer Berufswelt des Wandels.

Eine junge Frau wollte nicht aufgeben, den beruflichen Weg zu gehen, für den sie viel Vorarbeit geleistet hatte und der zu ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten passte – trotz aller finanziellen und bürokratischen Hürden, die sich ihr in den Weg stellten. Mit Unterstützung des Mütterzentrums und von spendablen Bürger_innen kann sie nun doch noch ihre Ausbildung antreten. Bei allen an diesem Dialog Beteiligten bestand großer Konsens darin, die Kinder und ihre Entwicklung fürsorglich im Blick zu haben und die Chancen auf eine selbständige Entwicklung der Kinder zu wahren. Denn wie mit den Chancen umgegangen wird, entscheidet mit darüber, ob Armut vererbt wird.

Was entsteht aus der Empörung heraus?
Im Gespräch konnten individuelle und strukturelle Anteile von Benachteiligung im Konkreten betrachtet werden. Respekt für den Einzelfall entstand im direkten Gespräch, die Mühen und Erfahrungen des einzelnen Menschen, Enttäuschungen und Stolpersteine wurden ausgesprochen und das für diesen Menschen Existentielle der Erfahrung wurde sichtbar. Im Sozialraum kann miteinander aus dieser Erfahrung heraus eine neue Entwicklung angestoßen werden.

Welche Rolle haben die Mütter- und Familienzentren beim Thema Armut?
Wir empfehlen den Mütter- und Familienzentren, den Dialog als Instrument zu wählen und die Empörung zu wagen, dabei jedoch an den konkreten Erfahrungen aus dem Sozialraum zu bleiben. Mütter- und Familienzentren sind Orte der institutionalisierten Dialoge für und mit von Armut Betroffenen sowie für und mit Entscheidungsträgern und Unterstützern im Sozialraum. Von den Mütter- und Familienzentren aus kann Fürsprache für Betroffene geleistet werden, die an strukturellen Problemen des Sozialraums leiden, strukturelle Ungerechtigkeiten werden benannt über die persönlichen Schwierigkeiten Einzelner hinaus.

Mütter- und Familienzentren schaffen für Betroffene Entlastung, indem Erfahrungen der Benachteiligung und Ängste ihren Raum finden und benannt werden können. Wir wollen nicht, dass Menschen still werden, weil soziale Ungleichheit gesellschaftlich legitimiert ist.

Im Einzelfall, dort wo es uns gelingt in Kontakt zu kommen, möchten wir auch denjenigen Menschen wieder eine Stimme geben, die ihr Gefühl von Minderwertigkeit und Perspektivlosigkeit verinnerlicht haben und sich nicht mehr als ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft sehen.

Im Projekt wurde Hilfe zur Selbsthilfe geleistet, denn die im Ablauf des gesamten Projekts gegebenen Beteiligungsmöglichkeiten Betroffener dienten der Selbstaktivierung und Ermutigung. Durch Reflexion entstand Eigeninitiative und Ermutigung zu politischer Einmischung und Nachfragen bei Ämtern. Die Betroffenen wurden darin unterstützt, ihre eigenen Kompetenzen zur Lösung belastender Lebenssituationen zu nutzen. Durch das Projekt fand auch eine Entlastung der Individuen von der Last ihrer individuellen Lebenslage statt: Personen, mit denen wir im Gespräch waren oder die in der Presse darüber gelesen haben, lernten zu differenzieren zwischen individuellem Versagen und strukturellen Ungerechtigkeiten.